Zum protestantischen und katholischen Bibelverständnis

Lutherische Überlegungen in ökumenischem Horizont

Hans-Martin Weiss
(Vortrag in Ortenburg am 31. 10. 2013)

Am 17. Oktober 1563 hatte Joachim Graf von Ortenburg Luthers Lehre in der einstigen Grafschaft eingeführt. Das ist der Anlass für Ihr Reformationsfest ein halbes Jahrtausend später. Im Kontext der Vorbereitungen haben Ihre Kirchengemeinde und der Kindergarten die Idee gehabt, eine eigene Ortenburger Bibel handschriftlich herzustellen. So gab es diverse „Bibel-Abschreibetage“ im evangelischen Gemeindehaus. Das Endprodukt beweist die Liebe Ihrer Gemeinde zur Bibel, wie das ja auch einer reformatorisch geprägten Gemeinde gut ansteht.
Die Heilige Schrift gehört freilich nicht nur den Protestanten, sondern genauso den Katholiken. Aber es gibt zwischen den Konfessionen Streit um die Bedeutung der Schrift, also um das angemessene Bibelverständnis. Darüber zu reden haben Sie mich heute Abend eingeladen.
Als protestantischer Konzilsbeobachter hat einst Wolfgang Dietzfelbinger in seinem Büchlein „Katholisch für Evangelische“ betont: An der Verbreitung der Bibel, „die sie auf dem Buchmarkt zum unbestrittenen Bestseller gemacht hat, sind Christen aller Konfessionen beteiligt.“ Das stimmt natürlich. Doch wird man auch sagen dürfen, dass die Konfession des Protestantismus besonderen Anteil hieran hat. Und zwar nicht nur wegen Luther, der die bekannteste und wirkungsreichste Bibelübersetzung im europäischen Sprachraum erstellt hat, sondern insgesamt wegen des hohen Stellenwerts, den die Bibel in evangelischer Spiritualität einzunehmen pflegt. Man merkt das beispielsweise beim Besuch eines protestantischen Gottesdienstes: Die Liturgie ist gesättigt von biblischen Zitaten, Lesungen oder Anspielungen; die Auslegung eines biblischen Textes steht in seinem Zentrum. Aber auch in Gemeindegruppen, an Bibelabenden, auf christlichen Kalendern, in den beliebten Losungsbüchern und nicht zuletzt auf Evangelisationsveranstaltungen – immer wieder dreht sich fast alles um Texte aus der Heiligen Schrift.
Für meinen persönlichen Bezug zur Schrift ist mir neben anderen Menschen meine Urgroßmutter ein Beispiel. Sie war eine einfache, fromme Frau. Sie hatte viel mitgemacht, früh den Mann und ihr eines Kind verloren, war in die Wirren der Russischen Revolution geraten, hatte den Zweiten Weltkrieg mit seinen Schrecken im Osten und der Not der Vertreibung erlebt und war schließlich mit ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn in Bayern ansässig geworden, wo sie die letzten zwanzig Jahre ihres langen Lebens verbrachte. So lange sie konnte, ging sie in den Gottesdienst und in die Bibelstunde. Ihre Hauptlektüre war die Bibel. Ihre warmherzige und tiefgläubige Lebensart ist mir bis heute ein Vorbild. Von ihrem Glauben und ihrer Frömmigkeit zehre ich. Ihr ursprüngliches und lebendiges Gottvertrauen machte sich ganz entscheidend an dem fest, was sie in der Bibel las und aus der Bibel hörte.
Dass Protestanten wie Katholiken seit langem die Bibel hoch zu schätzen pflegen, kann immer wieder deutlich wahrgenommen werden. Aber im evangelischen Raum gibt es durchaus einen ganz besonderen Bezug zur Heiligen Schrift. Hier steht anders als im Katholizismus das Prinzip im Vordergrund: Allein die Schrift – sola scriptura! Was hat es damit auf sich?
In der unterschiedlichen Gewichtung und dem unterschiedlichen Bibelverständnis der beiden großen Konfessionen in unserem Land werden Grunddifferenzen zwischen ihnen deutlich – vor allem in der Frage des Amtsverständnisses und der Bedeutung der Eucharistie. Diese Differenzen hängen mit der unterschiedlichen Auffassung von der Bedeutung der Heiligen Schrift zusammen. Ich will Ihnen das aufzeigen, indem ich zunächst Grundzüge des evangelischen und dann des katholischen Bibelverständnisses skizziere. Abschließen möchte ich mit einem kurzen ökumenischen Ausblick.

1. Drei Grundsätze zur evangelischen Sicht des „Wortes Gottes“
Ein spezifisch evangelisches Bibelverständnis hat sich im Laufe der Reformation herauskristallisiert. Martin Luther ist bei der Entwicklung seiner Lehre der Rechtfertigung des Gottlosen aus Gnade allein immer mehr dazu gekommen, die Autorität des Papstes und der Konzilien in Zweifel zu ziehen. Denn sie verdunkelte nach seiner Überzeugung die Christus-Wahrheit mehr, als dass sie das Wort Gottes erhellen würde. Systematisch kritisierte er von der Heiligen Schrift aus die damalige Kirchenlehre. Dieser Ansatz, Kirche und Schrift einander gegenüberzustellen, war damals neu.
In der Folge entwickelte Luther die dreifache Auffassung vom Wort Gottes. Dessen erste Gestalt ist Christus selbst: Er ist das eine Wort Gottes, das in ihm Mensch geworden ist. Die zweite Gestalt des Wortes Gottes ist das kirchliche Zeugnis von Christus: Luther sieht einen Vorrang der mündlichen Verkündigung vor der schriftlichen Fixierung im Bibeltext. Unter dem Evangelium versteht er weniger das, was in Büchern steht, als vielmehr die lebendige Predigt und das Christuszeugnis in der Öffentlichkeit. Die dritte Gestalt des Wortes Gottes schließlich ist die Schrift gewordene Verkündigung als Bibelbuch.
Das evangelische Prinzip „Allein die Schrift“ darf man nicht so verstehen, als basiere die evangelische Christenheit genauso unmittelbar auf der Bibel wie etwa der Islam auf dem Koran. Allein die Schrift – dieses Prinzip kann daher nicht für sich stehen; vielmehr ist es dem Prinzip „Christus allein!“ zugeordnet. Dem Christusglauben, seinem rechten Verständnis sollen alle reformatorischen Prinzipien dienen: allein die Gnade, allein der Glaube, allein die Schrift.
Ich fasse zusammen: Reformatorisch dient das Prinzip „Allein die Schrift“ gänzlich dem Herausstellen der Bedeutung des lebendigen Christus für den Glauben, der uns frei macht und erlöst. Damit ist das evangelische Bibelverständnis vollständig skizziert. Nun kann ich deutlich machen, worin die entscheidenden Unterschiede zur Auffassung der römisch-katholischen Kirche bestehen.

2. Zum römisch-katholischen Bibelverständnis
Was ich zum protestantischen Schriftprinzip ausgeführt habe, will ich nun auf das Traditionsprinzip im Katholizismus beziehen. Nicht nur die Heilige Schrift, sondern die mündliche Überlieferung wird hier wichtig. Zweifellos lässt sich von evangelischer Seite her der katholischen Kirche zugestehen, dass es einst die Kirche war, die überhaupt erst den Kanon der Schrift gesammelt und festgelegt hat. Auf der anderen Seite hält sich die protestantische Theologie ganz stark an den Beginn des Johannesevangeliums, wo von Christus als dem Wort Gottes die Rede ist, das überhaupt allem voraufgeht; ihm verdankt sich auch die Kirche. Deshalb ist der lebendige Christus die innere Mitte der Schrift, und von ihm her kann es sogar geboten sein, die Schrift selbst zu kritisieren. Entsprechendes gilt aus evangelischer Sicht von der kirchlichen Überlieferung: Sie darf geschätzt werden, muss aber ihrerseits kritisiert werden können von Christus her. Allein Christus ist als das eine Wort Gottes der Erlöser; deshalb kann und darf Maria nicht wie im Katholizismus als „Miterlöserin“ verehrt werden. Allein auf die göttliche Gnade kommt es an; darum ist das zu verkündigende Evangelium mit keinerlei kirchlichen Hürden oder Bedingungen zu ver­knüpfen. Allein die Schrift ist es schließlich, die den Inhalt der Christusbotschaft verbürgt – und nicht auch eine hierfür angeblich noch notwendige kirchliche Tradition.
Deshalb sieht sich die Kirche der Reformation weniger als Trägerin des Wortes Gottes, sondern primär als dessen Geschöpf. Dass es zwischen Schrift und Kirche kein Gleichgewicht gibt, dass die Schrift vielmehr immer der Kirche voraus ist, das ist Luther im Verlauf seiner zahlreichen Kontroversen zur Gewissheit geworden. Dabei ist er immer überzeugt geblieben: Bibel und Kirche gehören zusammen. Christus selbst als die erste Gestalt des Wortes Gottes und die Kirche als sein Leib bilden eine Einheit. Und das gleiche gilt für die Schrift als die dritte Gestalt des Wortes Gottes, die mit der Kirche aufs engste verbunden ist. Aber wie Christus das Haupt für die Kirche ist, so ist auch die Schrift der Kirche vorgeordnet. Zwar hat die Kirche die Schrift nicht nur weiterzureichen, sondern auszulegen. Doch solche Auslegung muss in Demut gegenüber dem Schriftwort geschehen; sie ist ein Akt des Dienens und nicht des Herrschens.
Das versteht sich von selbst, so dass dem auch jeder Katholik zustimmen kann. Im Weltkatechismus heißt es ausdrücklich: „Das Lehramt steht also nicht über dem Wort Gottes, sondern dient ihm…“ Aber was heißt „Dienen“ hier genauer? Das Lehramt – so geht der eben zitierte Satz weiter – dient dem Wort Gottes, indem es „nur lehrt, was überliefert ist…“ Es „dient“ ihm also gerade dadurch, dass es seine Auslegungen und Bestimmungen vornimmt auf der Basis von Schrift und mündlicher Überlieferung. Das sogenannte Traditionsprinzip bildet den entscheidenden Differenzpunkt.
Aus reformatorischer Sicht heißt solches Dienen einfach: hinhören auf das, was die Schrift allein aus sich selber heraus zu sagen hat. Bevor Kirche sich an die Auslegung macht, legt die Bibel sich zunächst selber aus; sie ist laut Luther ihr eigener Interpret. Dass die Schrift durch hingegen grundsätzlich das Lehramt auszulegen sei, ist für die römisch-katholische Theologie ein erstrangiger Satz. Für die evangelische Theologie kann das hingegen nur ein zweitrangiger Satz sein. Denn die Bibel besitzt nach reformatorischer Überzeugung eine ihr eigene Klarheit. Luther zufolge verhält es sich so, dass „die Schrift durch sich selbst ganz gewiss, ganz leicht verständlich, ganz offenbar und ihr eigner Interpret sei, indem sie alles prüft, beurteilt und erleuchtet.“ Diese Klarheit bedeutet, dass die Schrift nach ihrem Wortsinn ausgelegt werden muss. Näherhin unterscheidet Luther zweierlei Klarheiten: eine innere und eine äußere. Die äußere Klarheit der Schrift besteht in ihrer Verständlichkeit, zu der der Refomator nicht zuletzt durch seine Bibelübersetzung beitragen wollte. Die innere Klarheit aber wird allein durch den Heiligen Geist geschenkt: „Was kann an Erhabenem in der Schrift verborgen bleiben, nachdem die Siegel gebrochen, der Stein von des Grabes Tür gewälzt und damit jenes höchste Geheimnis preisgegeben ist: Christus, der Sohn Gottes, sei Mensch geworden, Gott sei dreifaltig und einer, Christus habe für uns gelitten und werde herrschen ewiglich?“
Solche innere Klarheit und auch äußere Klarheit der Schrift lässt lehramtliche Verbindlichmachungen als sekundär, wenn nicht überflüssig, ja womöglich sogar gefährlich erscheinen. Dabei bezieht sich die protestantisch vorausgesetzte Klarheit keineswegs bloß auf das je individuelle Gewissen des Bibellesers, das sie erleuchtet. Vielmehr muss für die christliche Gemeinde als ganze klar sein, was das Wort Gottes meint. Der großen kirchlichen Mehrheit muss sich erschließen, was das Evangelium als Zuspruch und Anspruch bedeutet; das ist Grundsatz evangelischen Bibelverständnisses. Luther traut der Bibel eine Deutlichkeit in ihrer eigentlichen, auf Christus bezogenen Sinnaussage zu. Die kann durch das kirchliche Lehramt nicht überboten und auch nicht autoritär gesichert werden.
Warum aber dieses Insistieren auf dem reformatorischen „Allein“? Hier geht es keineswegs um eine abstrakte Verneinung alles anderen. Vielmehr richtet sich das „Allein“ im Reformationszeitalter und bis heute durchaus konkret gegen jenes römisch-katholische „Und“ im Blick auf die Schrift. Aus römischer Sicht stehen Heilige Schrift und Tradition tatsächlich gleichberechtigt nebeneinander, denn sie entstammen ja beide der Überlieferung durch die Apostel. Das II. Vaticanum kann sogar die „Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift“ in dieser merkwürdigen Reihenfolge nebeneinander nennen – und dann betonen: „Demselben göttlichen Quell entspringend, fließen beide gewissermaßen in eins zusammen und streben demselben Ziel zu“. Die Heilige Schrift und die Heilige Überlieferung seien beide dem Heiligen Geist verdankt. Sie hätten beide als unversehrt tradiert zu gelten, denn die sie tradierenden Bischöfe hätten mit ihrem Amt das „sichere Charisma der Wahrheit empfangen“. Deshalb lehrt die römisch-katholische Kirche verbindlich sozusagen das „Nicht-Allein“: Sie lehrt, wie das II. Vaticanum und auch der Weltkatechismus ausdrücklich festhalten, dass „die Kirche ihre Gewissheit über alles Geoffenbarte nicht aus der Heiligen Schrift allein schöpft“. Vielmehr seien gemäß dem Ratschluss Gottes die Heilige Überlieferung, die Heilige Schrift und das Lehramt so miteinander verknüpft, dass keines ohne die jeweils anderen bestehe.
Warum haben die katholischen Glaubensgeschwister dieses Nicht-Allein stets so entschieden festgehalten? Die Betonung des „Und“, der angeblich mündlichen Tradition neben der Schrift lässt den Verdacht aufkommen, dass die Schrift allein nicht als hinreichend für das Verstehen der Heilsbotschaft gilt. Wo aber tatsächlich die biblische Klarheit, wie der Protestantismus sie behauptet, bestritten wird, dort gewinnt notwendig ein zusätzliches Kriterium außerhalb der Bibel an Gewicht. Und von dem kann keineswegs einfach gesagt werden, dass es gleichermaßen verlässlich sei wie die Bibel selbst. Dies umso weniger, als da Inhalte zum Zuge kommen, die ihrerseits biblisch nicht verbürgt sind und womöglich dem klaren Sinn der Schrift widersprechen. Jedenfalls müsste sich solch ein von außen kommendes Kriterium eigentlich dem biblischen Urteil eigentlich unterwerfen. Das aber ist wiederum unmöglich ist, wenn behauptet wird, dass dieses biblische Urteil als solches gar kein klares sei.
In der Tat geht es der römisch-katholischen Kirche beim Insistieren auf das Gewicht der Tradition um ganz bestimmte Inhalte, die bei näherer Betrachtung außerhalb des Neuen Testaments stehen. Es handelt sich im Wesentlichen um drei zusammenhängende Komplexe:
1. um das Verständnis der Eucharistie als priesterlich zu verwaltendes Opfer,
2. um die Betonung des kirchlichen Amtes mit seiner Weihe- und Lehrvollmacht,
3. um die Lehre von Maria als der Gottesmutter und Himmelskönigin.
Nicht zufällig sind all diese Themen neuralgische Punkte im ökumenischen Gespräch. Wenn etwa römisch-katholische Überzeugung ist: „Das Heilige muß heilig verwaltet werden“, dann be­gründet dieses Sakramentsverständnis ein besonderes Priestertum. Kraft seines wesensnotwendigen Mitwirkens am Vollzug des Altaropfers rückt es selber in eine bedenkliche Nähe zum Gedanken des Mitwirkens am Heilsopfer Christi. Von solchem Mitwirken kann tatsächlich umso mehr die Rede sein, als das einmalige Sühnopfer Christi ja ausdrücklich in kultischer Aktualisierung während der römischen Messe real, wenn auch unblutig „wiederholt“ wird.
Was Maria als Repräsentantin der „Gemeinde der Erlösten“ betrifft, so wurde sie von Papst Pius X. vor rund hundert Jahren gepriesen als „Verwalterin aller Gnadengaben, die Jesus uns durch seinen Tod erworben hat“! Noch das II. Vaticanum hat Maria von daher ausdrücklich den Titel der „Mediatrix“, einer Mittlerin zuerkannt: Die Mutter des Herrn habe am Erlösungswerk Christi insoweit Anteil, als sie es durch ihren Glaubensgehorsam mitgetragen habe.
Dass reformatorische Theologie bei solchen Äußerungen protestieren muss, liegt auf der Hand. Dabei sieht sie den römisch-katholischen Standpunkt im Zusammenhang damit stehen, dass er das sola scriptura-Prinzip verneint. Nach dem Urteil des erwähnten Konzilsbeobachters Wolfgang Dietzfelbinger hat das II. Vatikanische Konzil „keine Schritte unternommen, eine irgendwie kritische Funktion der Heiligen Schrift zu lehren gegenüber allen anderen Erscheinungen in der Kirche, als auch gegenüber der Tradition.“ Kein Wunder, dass in der Folge beispielsweise Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des modernen Katholizismus, in seinem bekannten „Grundkurs des Glaubens“ den einschlägigen Abschnitt über die Bibel erst im letzten Viertel des Werkes behandelt – und zwar unter dem bezeichnenden Titel „Die Schrift als das Buch der Kirche“!
Aber auch der einst in Regensburg lehrende Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., hat die Bibel schon immer in typisch römisch-katholischer Weise eingeordnet. Als Systematischer Theologe hatte er betont, die Offenbarung liege der Schrift voraus und schlage sich in ihr nieder; sie sei also nicht einfach mit ihr identisch. Das aber bedeute, dass Offenbarung immer größer sei als das bloß Geschriebene. Und das wiederum heiße, dass es ein reines Sola scriptura nicht geben könne! Vielmehr gehöre zur Schrift das verstehende Subjekt Kirche, „womit auch schon der wesentliche Sinn von Überlieferung“ gegeben sei. Die Tatsache, dass es Tradition gibt, beruht laut Ratzinger geradezu darauf, dass die beiden Größen Offenbarung und Schrift nicht deckungsgleich sind: „Offenbarung besagt nämlich das gesamte Sprechen und Tun Gottes an dem Menschen, sie besagt Wirklichkeit, von der die Schrift Kunde gibt, die aber die Schrift nicht einfach selber ist. Die Offenbarung überschreitet daher die Schrift im selben Maß, in dem die Wirklichkeit die Kunde von ihr überschreitet. Man könnte auch sagen: Schrift ist das Materialprinzip der Offenbarung…, aber sie ist nicht die Offenbarung selbst.“ Den Reformatoren sei das durchaus noch bewusst gewesen, meint Ratzinger. Erst im späteren Streit zwischen katholischer und protestantischer Theologie sei es zu einer immer stärkeren Verwischung dieser Differenz gekommen.
Nach seiner Wahl zum Papst hat Ratzinger anlässlich der Inbesitznahme der Lateran-Basilika erklärt, dass das Lehramt und der Papst selbstverständlich dem Wort Gottes diene – und dass deshalb seine päpstliche Auslegung unter dem Wort Gottes stehe. Eine für protestantische Ohren interessante Positionierung! Beim Verständnis der Auslegungsmethode orientiert sich Benedikt XVI. am II. Vatikanischen Konzil. Dieses Konzil folge einer grundlegenden Regel für die Auslegung jedes literarischen Texts: Die Heilige Schrift muss demnach im gleichen Geist ausgelegt werden, in dem sie geschrieben wurde. So weise sie auf drei grundlegende Elemente hin, um die göttliche, pneumatische Dimension der Bibel zu berücksichtigen. Erstens sei darauf zu achten, dass man bei der Auslegung des Textes die Einheit der ganzen Schrift berücksichtigt. Zweitens sei auch die lebendige Tradition der ganzen Kirche wichtig. Und drittens komme es auf die „Analogie des Glaubens“ an. Nur dort, wo sowohl das historisch-kritische als auch das theologische Niveau in den Auslegungsmethoden zum Zuge komme, könne man von einer der Heiligen Schrift angemessenen Exegese sprechen.
Von daher bedauert der Papst, dass die meisten Exegeten in Deutschland diese theologische Ebene nicht berücksichtigten. Sie kämen so zu Auslegungen, mit denen sie die Historizität der göttlichen Elemente leugneten. Zitat: „Wo die Exegese nicht Theologie ist, kann die Heilige Schrift nicht die Seele der Theologie sein, und umgekehrt, wo die Theologie nicht wesentlich Auslegung der Schrift in der Kirche ist, hat die Theologie kein Fundament mehr. Deshalb ist es für das Leben und die Sendung der Kirche und für die Zukunft des Glaubens absolut notwendig, diesem Dualismus zwischen Exegese und Theologie ein Ende zu bereiten.“
Den Versuch dazu unternimmt Joseph Ratzinger als Papst im 1. Band seiner Jesus-Trilogie. Hier bestätigt er den ausgesprochen theologischen Umgang mit der historisch-kritischen Methode. Gerade weil diese sich als ein gleichsam verselbständigtes Kind der Aufklärung erweise, bedürfe sie der geistlichen Einbettung. Sie habe zum Programm der „Entmythologisierung“ geführt – und damit einer großen exegetischen Willkür unter dem Mantel der Wissenschaftlichkeit Tür und Tor geöffnet. Das biblisch überlieferte Bild und Verständnis Jesu sei im Zuge dieser Entwicklung gewissermaßen in tausend Stücke zerbrochen. Der Papst aus Bayern beklagt bereits im Vorwort: „Der Riss zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens wurde immer tiefer, beides brach zusehends auseinander. Was aber kann der Glaube an Jesus den Christus, an Jesus den Sohn des lebendigen Gottes bedeuten, wenn eben der Mensch Jesus so ganz anders war, als ihn die Evangelisten darstellen und als ihn die Kirche von den Evangelien her verkündigt?“
Nicht dass der deutsche Papst mit seinem Werk die historisch-kritische Methode vom Tisch der Wissenschaft fegen wollte! Vielmehr bekennt er dankbar, ihr viel an Erkenntnis zu verdanken. Im Übrigen betont er, sein Buch nicht mit der Autorität des Papstamtes der Öffentlichkeit vorzulegen, sondern als persönliche Frucht seines Gelehrtenlebens. Was er aber möchte, ist eine Ergänzung dieser Methode durch eine zweite, nämlich die der sogenannten „kanonischen Exegese“. Der zufolge ist ein biblischer Text jeweils im Gesamthorizont der Heiligen Schrift auszulegen und zu beleuchten. Damit steht der Papst der Einsicht Martin Luthers überraschend nahe, dass die Bibel ihr eigener Interpret sei.
Durch die Anwendung dieser beiden Methoden im Verbund ergibt sich bei Ratzinger ein farbiges und – wie ich meine – sehr aussagekräftiges Jesusbild. Es entspricht dem kirchlichen Dogma von der Doppelnatur Jesu Christi, der sogenannten Zweinaturen-Lehre. Der menschlichen Natur Jesu zollt dabei eher die historisch-kritische Methode Tribut – und seiner göttlichen Natur eher die „kanonische Exegese“. Beide gehören unter spirituellem Aspekt untrennbar zueinander. Gleichwohl sind sie auch klar zu unterscheiden.
Dieser Ansatz erweist sich als durchaus fruchtbringend. Denn tatsächlich zerfällt bei einer bloßen Anwendung der historisch-kritischen Methode die Gestalt Jesu in vielerlei unsichere Aspekte mit wenigen klaren Zügen. Und notgedrungen wird sie dann einem grenzenlosen Pluralismus willkürlicher Deutungen ausgesetzt – seien sie im Kern theologischer, philosophischer oder sonstiger Natur. Man denke nur an die Fülle unterschiedlicher Jesus-Bücher auf dem Markt – und am Ende gar an die in einem Kinofilm verbreiteten, pseudowissenschaftlichen Thesen über den angeblich verheirateten und nie auferstandenen Jesus! Dagegen muss es im Sinne der christlichen Kirche sein, einerseits die Historizität Jesu Christi festzuhalten – und andererseits auch seine bereits im Neuen Testament ansatzweise bezeugte Göttlichkeit. Die biblisch ausgesagte Heilsbedeutung Christi muss heutzutage kirchlich ebenso transportiert werden wie früher, wenn die Kirche nicht ihre eigene religiöse Irrelevanz befördern will. Insofern ist das auf drei Bände angelegte Werk Ratzingers über Jesus auch aus protestantischer Sicht zu begrüßen.
Zwei Einschränkungen ergeben sich bei solcher Würdigung aus protestantischer Sicht aber doch. Und zwar zum einen dort, wo der Papst in typisch katholischer Weise zwischen Heiliger Schrift und mündlicher Tradition als maßgeblichen Quellen kirchliche Verkündigung nicht angemessen unterscheidet. Und zum andern in der Hinsicht, dass das Gewicht der „kanonischen Methode“ bei Ratzinger doch zuweilen in ungebührlicher Weise die historisch-kritische Methode aushebelt oder zu kurz kommen lässt. Hierzu hat der Neutestamentler Jörg Frey erklärt: Man hat in den biblischen Schriften durchaus auch „mit der Möglichkeit zu rechnen, dass Sinnpotentiale nicht weitergeführt, Einsichten zurückgedrängt und Bilder umgeschrieben wurden. Manche der zwischen den Evangelien divergierenden oder auch konkurrierenden Aussagen und Erzählzüge lassen sich nicht einfach additiv und harmonistisch zusammendenken. Als hermeneutische Setzung birgt das von Ratzinger gewählte Modell die Gefahr, dass die je eigenen geschichtlichen Anliegen und Perspektiven der biblischen Zeugen eingeebnet werden…“ Freilich meine ich mit Blick auf die exegetische Forschung im Zeichen der historisch-kritischen Methode, dass man es mit der Betonung „redaktioneller“ Unterschiede im Neuen Testament auch übertreiben kann. Darum stimme ich dem Papst insgesamt zu, wenn er resümiert: „Ich denke, dass gerade dieser Jesus – der der Evangelien – eine historisch sinnvolle und stimmige Figur ist.“ Aus meiner Sicht hat dieses Buch des Papstes etwas Ökumenisches.

3. Ökumenischer Ausblick
Gibt es angesichts der geschilderten Differenzen im Schrift- und Amtsverständnis überhaupt eine Chance zur ökumenischen Verständigung? „Die Bibel ist ein Buch der Gemeinschaft“, erklärt der Evangelische Erwachsenen-Katechismus. Dieser Satz lässt sich vortrefflich auf die ökumenische Problematik beziehen. Schon der grundlegende Umstand, dass alle Konfessionen die Bibel als Heilige Schrift gemeinsam hochhalten, ja dass es sogar gemeinsame Übersetzungen gibt, macht Hoffnung. Sollte es dieser Gestalt des Wortes Gottes wie überhaupt dem gemeinsam bezeugten Christus als dem lebendigen Wort Gottes nicht möglich sein, die Kirche als Geschöpf seines Wortes zunehmend zu einer Einheit im Geist der Liebe und der Wahrheit umzuformen? Diese Möglichkeit hat das Wort freilich nur, wenn es immer besser gehört und solches Hinhören in geschwisterlicher Anleitung gefördert wird.
Als ein Beispiel für ein geschwisterliches Zusammenwirken in solchem Hören empfinde ich in Deutschland die bilaterale Studie „Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen“ aus dem Jahr 2000. Gemeinsam konnten römisch-katholische und evangelische Theologen hier sagen, dass „die Heilige Schrift unter dem Anhauch des Heiligen Geistes aufgezeichnet worden“ ist und dass sie „das Wort Gottes bezeugt“. Einig ist man sich hier auch in ihrer unüberbietbaren und unersetzbaren Autorität im Sinne der „norma normans“. Nicht zuletzt bekennt man miteinander, die Bibel sei niemals isoliert, sondern immer im Zusammenhang der Glaubens- und Zeugnisgemeinschaft der Kirche zu befragen. Der Streit um das Verhältnis von Schrift und Tradition könne heute gelöst werden. Denn von lutherischer Seite werde anerkannt, dass die Heilige Schrift selber aus ur­christlicher Tradition hervorgegangen und durch die kirchliche Tradition überliefert worden sei. Umgekehrt werde von katholischer Seite anerkannt, dass die Bibel die Offenbarung hinreichend enthalte, also nicht ergänzungsbedürftig sei. So gesehen, könnten Schrift und Tradition weder voneinander isoliert noch gegeneinander gestellt werden. Beide Kirchen stimmten vielmehr „darin überein, dass das Empfangen, Erkennen und Bezeugen der Wahrheit Aufgabe der Kirche als ganzer ist und daß hierbei verschiedene Erkenntnis- und Bezeugungsinstanzen zusammenwirken müssen.“
In welcher Weise diese Bezeugungsinstanzen – also die Bibel, die Tradition, das Amt, das Volk Gottes und Theologie – einander zuzuordnen seien, das bleibt zwischen beiden Kirchen allerdings weiter klärungsbedürftig. Und das ist keine Kleinigkeit: Begann nicht eben damit die Reformation, dass die Heilige Schrift gegen sämtliche anderen Bezeugungsinstanzen aufgeboten wurde?
Das Fazit aus dieser Studie, aber auch aus anderen ökumenischen Prozessen der letzten Jahrzehnte lautet: Man hat sich in gegenseitigem Verstehen aufeinander zu bewegt. Aber von wirklicher Einigkeit – gerade in den genannten Zuordnungsfragen, die nun wirklich keine Rand­fragen sind – kann leider noch nicht die Rede sein. Das muss meiner Meinung nach offen eingestanden werden. Der Dialog darf deshalb selbstverständlich nicht infrage gestellt oder gar abgebrochen werden. Aus der immer neuen Begegnung heraus erwachsen Chancen neuer, weiterführender Erkenntnisse und Lernprozesse. Zu lernen kann dabei freilich auch schmerzlich sein, dass bestimmte Konturen der verschiedenen Kirchen bis auf Weiteres unverändert bestehen bleiben werden, weil sie die jeweilige konfessionelle Identität und Authentizität ausmachen.
Aber ich halte fest: In der Sache gibt es jedenfalls Anlass zu begründeter Hoffnung auf ökumenischen Fortschritt. Und zwar gerade im Hinblick auf das Ringen um ein theologisch angemessenes Bibelverständnis. Denn von evangelischer Seite wird die Schrift – wie ich dargelegt habe – sozusagen erst als drittrangige Gestalt des Wortes Gottes verstanden, der gegenüber der lebendige Christus mit seinem Geist in der je gegenwärtigen kirchlichen Verkündigung voraus ist. Und von katholischer Seite wird die Schrift, wie ich ebenfalls gezeigt habe, samt der Tradition überraschend ähnlich zurückgeführt auf den göttlichen Quell des Mysteriums Christi selbst. Somit ist eine tragfähige Basis, ja ein herausforderndes Motiv dafür gegeben, im gemeinsamen Hören auf Christus immer wieder neu das theologische und kirchliche Miteinander zu suchen. Dieses Motiv ist der lebendige Herr selbst, der uns allen seinen Geist schickt, um uns zu sich zu ziehen. Wir alle wollen und dürfen Diener seines Reiches sein. Und eine solche Dienerin – das können wir ökumenisch sagen und festhalten – ist ja auch die Heilige Schrift selbst.
Umso mehr aber sind beide großen Konfessionen gleichermaßen herausgefordert durch den gegenwärtigen Umstand, dass es um die Kenntnisse der biblischen Inhalte in der Ge­sellschaft immer schlechter bestellt ist. Dass die Heilige Schrift wunderbare Schätze bereit hält, die zur inneren Stärkung und zur Befreiung hilfreich sind, muss sich wieder neu innerhalb und außerhalb der Kirchen herumsprechen. Wir brauchen wieder mehr Menschen mit einer Liebe zur Bibel, wie sie zum Beispiel meine Urgroßmutter gehabt hat.


Literaturhinweise:
- Matthias Haudel: Die Bibel und die Einheit der Kirchen, Göttingen 2012 (3. Aufl.)
- Ulrich H. J. Körtner: Theologie des Wortes Gottes, Göttingen 2001
- Matthias Petzold (Hg.): Autorität der Schrift und Lehrvollmacht der Kirche, Leipzig 2003
- Werner Thiede: Protestantisches und katholisches Bibelverständnis. Studienbrief Bibel B 16 (Beilage zu: Brennpunkt Gemeinde 4/2012)
- Ulrich Wilckens: Kritik der Bibelkritik. Wie die Bibel wieder zur Heiligen Schrift werden kann, Neukirchen-Vluyn 2012